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Can Mayaoglu - Nadia
(VÖ:11.04.2023) Das spurlose Verschwinden ihrer jüngeren Schwester Dilhan und die Trennung von ihrer großen Liebe Rahel haben der Installationskünstlerin Nadia den Boden unter den Füßen weggezogen. Zwar schafft sie es, den Verlust Dilhans zu einem in aller Welt gefeierten Ausstellungsprojekt zu verarbeiten, doch der Trost, den das Publikum in dem interaktiven Kunstwerk findet, kommt bei Nadia selbst nicht an. Ihr innerer Aufruhr bleibt, der Jetset im Zeichen der Kunst ist mehr Flucht als Therapie. Als sie die Installation erstmals in ihrer Heimatstadt Hamburg präsentieren soll, zählt Nadia darauf, dass ihre jahrelang eingeübten Schutz- und Fluchtmechanismen sie auch diesmal vor aufrüttelnden Konfrontationen bewahren. Doch hier, wo die Traumata ihren Ursprung haben, ist die Vergangenheit unerwartet lebendig -- und die Erinnerung stärker als die Verdrängung. In \"Nadia\" erzählt Can Mayaoglu in energischer, zeitgemäßer Sprache über das Weiterleben nach dem Knacks. Ihre Titelheldin kreist mal trotzig, mal verzweifelt um die zwei großen Leerstellen ihres Lebens. Statt sich jedoch zweckorientierter Mittel der Traumabewältigung zu bedienen, lernt Nadia Schritt für Schritt zu begreifen, dass der Schmerz zu einem Teil ihrer Identität geworden ist – eine Erkenntnis, die nicht nur für sie selbst, sondern auch für die Lesenden neue Horizonte öffnet. Die psychologische Komplexität des Stoffes spiegelt Mayaoglu in vitalen Figuren und humorvollen Dialogen, die überzeitliche Thematik in literarischen Verweisen von Shakespeare über Proust bis Willemsen. Hinzu kommt eine \"Playlist\" aus Song-Zitaten, die die Kapiteltitel bilden. Sie machen \"Nadia\" endgültig zu einem Romandebüt mit einem ganz eigenem Sound. | |
David Santos Donaldson - Grönland
(VÖ:17.04.2023) Der junge Autor Kip Starling hat sich mit einer Pistole und einem Langzeitvorrat Mineralwasser im Keller seines Hauses in Brooklyn verbarrikadiert, um ungestört zu arbeiten. In nur drei Wochen soll Kip seinen ersten Roman abliefern – ein ambitioniertes Werk über das Schicksal des jungen Ägypters Mohammed el Adl, der von 1917 bis 1922 der Liebhaber der britischen Schriftstellerlegende E. M. Forster war. Mohammed erscheint Kip gleichzeitig rätselhaft und seltsam vertraut. Sie sind beide schwarz und queer, sie führen beide prägende Beziehungen zu weißen Männern, sie sind jeder auf seine Weise mit Vorurteilen, Rassismus und Homophobie konfrontiert. Während Kip sich wie im Rausch in die Arbeit stürzt, beginnen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Literatur und Leben, Gestern und Heute zu verschwimmen. Mohammeds Geschichte (und schließlich Mohammed selbst) beginnt zu Kip zu sprechen. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wird zu einem Proust\'schen Portal in seine eigene Erinnerungswelt. Drei Kontinente, zwei Epochen, eine Sprache: David Santos Donaldson beleuchtet den Traum von der Assimilation in einer weiß dominierten Mehrheitsgesellschaft sowie die Fallstricke und Missverständnisse in interkulturellen Beziehungen. Zudem spürt er in dringlicher, irisierender Prosa dem Erbe des Schriftstellergiganten E. M. Forster nach, um gleichzeitig die erlösende Kraft der Literatur als solcher zu beschwören. Die Originalausgabe von \"Grönland\" wurde von der amerikanischen Presse begeistert aufgenommen und Donaldson als neue Stimme der Black Queer Literature in einem Atemzug mit Bryan Washington, Brandon Taylor und Robert Jones, Jr. genannt. \"Grönland\" ist ein eindrücklicher Debütroman, der auf meisterhafte Weise die Vergangenheit an der Gegenwart spiegelt und die Suche nach der Wahrheit als Motor künstlerischer Schaffensprozesse nicht nur greifbar werden lässt, sondern auch als das sinnliche Abenteuer offenbart, das große Literatur ausmacht. | |
Lars Werner - Zwischen den Dörfern auf hundert
(VÖ:22.04.2023) Dresden, Sommer 2006. Während Deutschland im Zuge der Fußball-WM eine neue Arglosigkeit im Umgang mit nationalen Symbolen entwickelt, sind Benny, seine beste Freundin Maren und ihre Clique auf \"Anti-Schland\"-Kurs. Weil sie wissen, wohin Patriotismus führen kann. Und weil sie Punks sind. Bei Pogo-Partys im Jugendzentrum Rosaluchs, Straßenschlachten mit der Polizei und Kollisionen mit Neonazi-Banden erleben sie das Erwachsenwerden im Schleudergang. Bennys Alltag ist ein Taumel zwischen Gefahren und Glücksmomenten. Hinzu kommen die unvermeidlichen Wirrungen der Pubertät: Eskalationen im Elternhaus, Planlosigkeit in Sachen Zukunft, Verselbstständigung der Hormone. Und dann ist da noch dieser komische Kuss mit seinem Kumpel Arne, der Benny deutlich mehr beschäftigt als ihm lieb ist. Nach seinen Theatererfolgen \"Weißer Raum\" und \"Deutsche Feiern\" legt Lars Werner mit \"Zwischen den Dörfern auf hundert\" seinen ersten Roman vor. Hellsichtig und humorvoll zeichnet er das Porträt einer ostdeutschen Jugend, die den DDR Sozialismus nur noch aus Erzählungen kennt, dem nachfolgenden Erstarken des Neonazismus dagegen täglich ausgesetzt ist. So ist dieses Debüt nicht nur eine ambivalente literarische Liebeserklärung an Dresden und sein Umland, sondern auch ein lakonischer Kommentar auf die Zerrissenheit der deutschen Gesellschaft. Das Ringen zwischen Gestern und Heute, Herkunft und Ankunft, Mainstream und Queerness, Stadt und Provinz -- all das steckt drin im drängenden Lebenshunger von Lars Werners Ich-Erzähler Benny. Er demontiert den Mythos vom Sommermärchen -- indem er sein eigenes erzählt. | |
Gabriel Wolkenfeld - Wir Propagandisten
(VÖ:22.09.2023) Gabriel Wolkenfelds Roman \"Wir Propagandisten\" entstand 2013 als literarische Reaktion auf die Verabschiedung des sogenannten Homo-Propaganda-Gesetzes in Russland. Das Buch erzählt die Geschichte eines jungen Deutschen, der ein Jahr lang als Sprachlehrer in Jekaterinburg Land und Leute kennenlernt und dabei die Einführung des Gesetzes vor Ort mitbekommt. In klarer, doch assoziativer Sprache zeichnet der Text ein lebendiges Porträt des Alltags jenseits des Kremls, berichtet von Wodka-Gelagen in WG-Küchen, von schwulen Hinterhof-Partys, von zaghaftem Widerstand und geflüsterten Geständnissen, aber auch von der Angst, die sie auslösen. Und immer wieder von den lichten Momenten seligen Trotzes, die stärker sind als das Poltern der Gegner: \"Verdammt noch mal, denke ich, das Leben ist schön. Wir haben – auf absehbare Zeit zumindest – nur dieses eine.\" Zehn Jahre nach seiner Entstehung ist \"Wir Propagandisten\" aktueller denn je. Nicht nur wurde das Homo- Propaganda-Gesetz seither von Ländern wie Ungarn adaptiert und in Russland 2022 nochmals verschärft, es lädt im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch zu neuem Nachdenken über die Zusammenhänge von chauvinistisch-autoritären Machtstrukturen und Homophobie ein. In dieser Hinsicht erscheint Wolkenfelds Text fast schon prophetisch. Vor allem aber vermittelt er eine Perspektive, die im Zuge von Nachrichtensperren und Kriegsberichterstattung immer mehr aus dem Fokus gerät: den Alltag einer undogmatisch-oppositionellen russischen Bevölkerung. Für diese Neuausgabe hat der Autor ein aktuelles Nachwort verfasst, das die jüngsten Entwicklungen in Russland reflektiert. | |
Michael Roes - Spunk
(VÖ:25.09.2023) 1978/79: Nach seiner Ausbildung zum Dachdecker entflieht Gabriel der gewalttätigen Enge seines rheinischen Elternhauses, indem er – gemäß alter Handwerkertradition – auf Wanderschaft geht. Bewehrt mit Stenz und Charlie, entdeckt er das Land seiner Herkunft in all seiner Schönheit und Zerrissenheit. Sein treuer Begleiter: ein Wanderbuch, dem er nicht nur seine Stationen und Bekanntschaften, sondern auch seine tiefsten Gedanken anvertraut. Sie drehen sich um Freiheit, Sexualität, Gesellschaft, Familie und die Macht der Worte. Als Gabriel in West-Berlin strandet und in einer Kreuzberger Hausbesetzer-WG den Punk Pille kennenlernt, erfährt er zum ersten Mal in seinem Leben das Gefühl inniger Freundschaft. Oder ist es Liebe? Für ein paar Wochen scheint es, als wäre er angekommen. Doch die Walz ist noch nicht vorbei – und die Suche nach einer eigenen Sprache gerade erst am Anfang … Nur wenigen Schreibenden gelingt es so eindrücklich, Epochen, Orte und Kulturen mit den Mitteln der Sprache zu vermessen wie Michael Roes. Sein neues Buch, das er ironisch als »Heimatroman« bezeichnet, ist eine literarische Walz von Wertherbruch in NRW bis nach Taizé in Frankreich. Mit jedem Kilometer, den sich der Ich-Erzähler weiter von \"Vaddern\" und \"Muddern\" entfernt, werden seine Gedanken spielerischer und seine Lust, die Grenzen der eigenen Herkunft zu sprengen, größer. So skizziert der Text nicht nur eine geografische Reise, sondern auch ein Entkommen aus dem tristen Schweigen der westdeutschen Vorwende-Provinz in die gelöste Rhetorik eines freien Geistes. Am Wegesrand: die Alpen, das Meer und eben jener lebensverändernde Abstecher in die vergangene Parallelwelt der Aussteiger-Insel West-Berlin, deren anarchistischem Geist \"Spunk\" ein Denkmal setzt. | |
Adam Mars-Jones - Box Hill
(VÖ:22.03.2024) Surrey County in England, im Jahr 1975: An seinem 18. Geburtstag beobachtet Colin am Box Hill, einem Biker-Treffpunkt südlich von London, neugierig die starken Kerle im Motorrad-Outfit. Noch weiß er nicht, dass dieser Tag sein Leben für immer verändern wird. Bis er wortwörtlich über einen der starken Kerle stolpert: Ray. Die natürliche Autorität des deutlich älteren Mannes mit der Lederkluft übt vom ersten Moment an eine unbezwingbare Anziehungskraft auf Colin aus. Die Folgen sind seine erste sexuelle Erfahrung, seine erste Fahrt auf einer Norton Commando und seine erste Beziehung. Noch am selben Tag zieht er bei Ray ein – der Beginn einer sechs Jahre andauernden, streng reglementierten Zweisamkeit, in der sich die Grenzen zwischen Unterwerfung und Geborgenheit auflösen. Adam Mars-Jones verbindet in \"Box Hill\" die Geschichte einer SM-Beziehung mit einem großen Panorama der Widersprüchlichkeiten menschlichen Verhaltens. Indem er den Ich-Erzähler Colin die Geschichte mit einem zeitlichen Abstand von knapp zwanzig Jahren erzählen lässt, schreibt er dem Text beiläufig eine Nostalgie ein, die auch den Abgründen des Geschehens eine gewisse Zärtlichkeit zubilligt. Und indem er Ray gleichermaßen als Unterdrücker und als Ikone zeichnet, macht er die Ambivalenz von Colins Gefühlen nachvollziehbar. Das ist sexy und anrührend, traurig und komisch, und entlarvt nicht zuletzt mit einer charmanten Portion britischen Humors das Männerwelt-Idyll der ungebremsten Motorrad-Rennfahrten, drakonischen Machtspielchen und versauten Poker-Runden als Mythos von gestern. | |
Ahepka Yves Moïse N’Guessan - Die Frauen seines Lebens
(VÖ:15.04.2024) Die Vier-Millionen-Metropole Abidjan an der Elfenbeinküste, heute: Der junge Arzt Marco hat es geschafft. Er hat eine erfolgreiche Karriere, seine stolze Mutter liebt ihn über alles, mit seiner Ehefrau Linda hat er die gemeinsame Tochter Anastasia großgezogen. Doch die Fassade bröckelt. Denn sie fußt auf Traumata, Verdrängung und dem Korsett gesellschaftlicher Zwänge. Als Marco nach Jahrzehnten der Selbstverleugnung beschließt, seine unterdrückte Homosexualität auszuleben, gerät seine von Disziplin und äußerem Erwartungsdruck zusammengehaltene Welt aus den Fugen. Nicht nur werden ihm schlagartig die Versäumnisse seines bisherigen Lebens klar, die Entscheidung hat auch prompte Reaktionen auf Seiten von Mutter und Ehefrau zur Folge. Beide sehen sich in ihrer Existenz bedroht und auf Unterdrückungserfahrungen aus der eigenen von Zwangsehe, Beschneidung und patriarchaler Willkür gezeichneten Vergangenheit zurückgeworfen. Die Situation eskaliert, als Anastasia auf die Situation mit einem perfiden Plan reagiert. In \"Die Frauen seines Lebens\" legt Ahepka Yves Moïse N’Guessan anhand der Biografien seiner Protagonist*innen die Wunden der von Kolonialzeit, Bürgerkrieg und politischen Krisen geprägten Gegenwart der Elfenbeinküste offen. Der unfreie Umgang mit dem Thema Homosexualität wird dabei zum Sinnbild einer Kultur, die zwischen Tradition und Fortschritt, Aufbruch und Stillstand feststeckt. Zwar sind homosexuelle Handlungen in dem afrikanischen Land – anders als bei den Nachbarn Liberia und Ghana – nicht gesetzlich verboten, dennoch werden sie von der Mehrheit der ivorischen Gesellschaft abgelehnt. Am Ende nutzt N’Guessan die lokalen Bezüge aber nur als Blaupause für eine universelle Geschichte über veraltete Männer- und Frauenbilder sowie die Ursprünge von Tabus und deren Folgen. \"Die Frauen seines Lebens\" ist ein erhellendes und ergreifendes, vor allem aber zutiefst humanistisches Plädoyer für die Freiheit, den eigenen Weg gehen zu dürfen. |
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